Auf dieser Seite finden Sie einen kleinen Ausschnitt aus dem Roman:
Der Park, der See und darauf ein Schloss
Er parkte in einer Straße in der Nähe vom Park. Sie stehen vor der Brücke, die über den See zum Schloss führt. Aus der Tiefe des Parks dringen Kinderstimmen von Spielplätzen, die Ende des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet wurden.
- Du nennst diesen Park „Park Carmen Machado“?
- Wahrscheinlich ist sie auch hier gestanden, oder da drüben neben dem Balken am Rasenrand. Verzaubert von dem Springbrunnen und dem Schloss hat sie vergessen, vorsichtig zu sein. Die Nähe der Häuser hat sie getäuscht.
Durch ein beleuchtetes Fenster hört man jemanden am Klavier spielen – die Gemächer des Schlosses sind sicher sehr dunkel, weshalb sie so früh Licht anmachen müssen.
- Woher hast du diese Geschichte, Seli? – fragt er nachdenklich.
- Das ist die Geschichte von Carmen Machado. Sie ist noch nicht vollendet.
Sie lächelte ihn an und hakte sich bei ihm ein. Sie liefen an diesem Oktobernachmittag die Pfade des Parks entlang.
Es ist Winter. An den Zweigen hängen keine Blätter mehr. Auch auf den Pfaden sind keine mehr zu sehen. Ein Mädchen steht unter einem Baum am Seeufer. Der Frost hat Reif in ihr rotes Haar geflochten. Sie ist barfuß, und die Luft riecht schon nach Schnee. Sie trägt ein zerrissenes, grünes Kleid, das letztes Jahr, als sie nach Frankfurt kam, noch neu war. Ihr herzförmiges Gesicht ist wie aus Eis. Sie gleicht einer Porzellanpuppe. Ihre Lippen sind blau.
Die Fenster des Wasserschlosses sind beleuchtet und strahlen Wärme aus. Und die Klavierklänge fließen durch dieses Licht, lassen sich auf das eisige Wasser des Sees nieder... Wer spielt da bloß so früh Klavier?
Ihr fiel ein, dass ihr Rucksack am Flughafen gestohlen wurde. Sie hat noch den Koffer, da ist sicher auch etwas Warmes dabei, was sie anziehen kann. Doch es gab keinen Koffer weit und breit. Ihr Blick sank auf ihre Füße. Sie ist barfuß... barfuß, mitten im Winter in einem Park... Sie steht entsetzt unter dem Baum. Man hat ihr allesgestohlen: den Rucksack, den Koffer, die Schuhe und die Jacke... und die Seele! Sie hatte nur noch einen Namen: Carmen Machado!
- Wenn ich tot bin, warum friere ich dann so sehr? Warum habe ich solche Angst? Wie kann ich fühlen, wenn ich tot bin?
Die ersten Schneeflocken flattern schon durch die Luft, fallen auf den Boden und schmelzen weg. Nur diejenigen, die sich auf ihr Haar und ihre Füße niederlassen, bleiben weiß und gefroren.